Elite muss leiden

Die Arme um den eigenen Körper geschlungen, suchte er die Nähe seines in den gleichen Farben spärlich bekleideten Nachbarn. Dieser schaute verquollen gequält durch die  bläulich getönten Gläser seiner Schwimmbrille auf die gekräuselte Wasseroberfläche vor sich. Der nächste Kälteschauer ließ die Haare sich auf den unverhüllten Armen aufstellen wie im letzten Widerstand gegen den bevorstehenden Schock. Selbst die im feuchten Sand vergrabenen Zehen schienen die Frage in den bedeckten Morgenhimmel zu rufen, die nicht wenige hunderte Badekappen-tragende Triathleten in diesem Moment stumm bewegte: Ist Elite ein Wort für Leiden?

 

Elite muss leiden

 

Was heißt eigentlich Elite? Und warum verbirgt sich hinter diesem Begriff ein großes Zittern? Gesellschaftlich wird mit diesem Wort eine Klasseneinteilung vorgenommen, eine kleinere Anzahl Menschen wird über die große Masse der anderen erhoben. Während des Wartens auf den Startschuss zu einem Triathlonwettkampf bei knappen 13 °C Lufttemperatur und vielleicht für Pinguine angenehmes 7°C wärmeres Wasser erwachen schon einmal sozialistische Gedanken zum Leben. Wer musste denn unbedingt die Starter in der hessischen Triathlonliga zur Elite zählen? Hinter dieser Zuordnung verbirgt sich unter anderem ein besonderes Regelwerk. Die wärmenden Neoprenanzüge sind erst bei viel niedrigeren Wassertemperaturen erlaubt als bei anderen Wettkämpfen. Ist dies die Verdeutlichung elitärer Unterkühltheit?

 

Elite muss leiden

In diesem Wettkampfsommer führte diese Regelung dazu, dass nur bei einem Wettkampf die isolierende Gummihaut erlaubt war. Beim Griesheimer Short Track Triathlon nämlich, dem zweiten Wettkampf in der hessischen Liga-Serie. Dieses Rennen verwirrt allein schon durch seinen Namen, denn es fand dieses Jahr weder in Griesheim, noch wie im letzten Jahr in Leeheim, sondern in Biebesheim statt und wird weder auf der Short-Track- noch auf der Sprint- sondern auf der olympischen Distanz ausgetragen. Ein Nomaden-Triathlon also mit versteckten Längen. Elitäre Verwirrung. Und der einzige Termin in diesem Jahr, an dem die Mannschaften der Seniorenliga und der ersten Hessenliga zugleich starteten. Hier hätte sich bei wärmerem Wasser auch der anfangs erwähnte Klassenunterschied deutlich gezeigt: Die Seniorenliga zählt sich nicht zum elitären Haufen und hätte eine andere Gummiregelung erfahren. Eine ganz neue Bedeutung des Wortes Wasserscheide. Der Klassenkampf brach nicht aus, weil das Wasser „glücklicherweise“ kalt genug war. Eine Spaltung innerhalb des Dreikämpferhaufens der TG Rüsselsheim ist sowieso nicht zu erwarten. Mittlerweile ist der Altersdurchschnitt so hoch, dass ein reger Austausch der Starter zwischen der Ü40-Mannschaft und dem elitären Haufen herrscht. Und wenn das eigene Alter noch nicht ausreicht, passt der findige Jung-Triathlet wenigstens sein Verhalten an. So wie der mit seinen 34 Jahren noch als jung geltende Thomas Philipp. In Biebesheim verwirrte er seinen Mannschaftskapitän 2 Sekunden vor dem Startschuss, als er aus seiner Startposition am Ufer zu einem Wettkampfrichter herübersprintete. Kurz vor dem Eintauchen ins kalte Wasser hörte Uwe Münch noch Thomas‘ Stimme den Halbsatz sagen: „Mir ist da ein Mißgeschick passiert….“. Ein sehr elitärer Halbsatz. Nun, 1500 Meter Schwimmen und eine gute Wasserkühlung des Denkzentrums gaben dem Kapitän genügend Zeit, über die Bedeutung dieses Satzes nachzudenken. Konnte der schnellste Läufer des Teams nicht am Rennen teilnehmen? Würde die Mannschaft dann auch mit den nötigen 4 Finalisten in die Wertung kommen? Oder wollte Thomas seine Elite-Einteilung ausspielen und einen Wettkampfrichter ganz für sich allein haben? Erleichterung verschaffte erst die Begegnung auf der mit Wendepunkten versehenen Radstrecke. Thomas war im Rennen. Wie sich nachher herausstellte, hatte er vergessen, den Zeitmesschip vor dem Schwimmen an seinem Fußgelenk zu befestigen und fragte den Kampfrichter um Rat. Damit Uwe Münch aber nicht der einzige Verwirrte des Tages blieb, zeigte Thomas in der Wechselzone vom Schwimmen zum Radfahren ein Verhalten, das die Zuschauer von ihm nicht gewöhnt waren. Statt in Windeseile den Neoprenanzug abzustreifen, in die Radschuhe zu schlüpfen, den Helm auf den vergesslichen Kopf zu schnallen und mit dem Rad bis zum markierten Aufspringpunkt loszurennen, kramte er in seinem Rucksack herum. Elitäres Rucksackkramen. Mit endlich gefundenem Zeitmesschip beeilte er sich dann aber doch so, dass er nach Thomas Kröll als Mannschaftszweiter die Ziellinie überquerte. Thomas Kröll ist übrigens neben seinem Start beim Frankfurter Ironman in diesem Jahr der einzige TG-Triathlet, der sowohl in der ersten hessischen als auch in der Seniorenliga startete. Seniorität schützt vor Elite nicht. Mit seiner Erfahrung und der gemischt routinierten und frisch konstituierten Mannschaft in der Liga für das beste Alter gelang die Erzielung des hervorragenden vierten Ranges im Endklassement, immerhin von 19 Mannschaften. Der Mannschaftskapitän der Senioren Michael Schulz bewies bei der Aufstellung der Startformationen der vier ausgetragenen Rennen ein glückliches Händchen, hat er doch bei jedem Wettkampf die Routine der alten Recken wie Bodo Wolf und Bernd Burow mit der Impulsivität von Liga-Frischlingen wie Hans-Peter Kroepsch und der Frauen-Power von Martina Lang und Simone Jochem verbunden.

 

Elite muss leidenDie Mannschaft der ersten Hessenligamannschaft ist personell schon etwas spärlicher ausgestattet. Kapitän Uwe Münch vermutet, dass die mangelnde Bereitschaft zum Start in dieser Gruppe an der Bürde des Elitären liegen mag. Und diese Bürde hat manchmal viel mit Frieren zu tun. Eine halbe Stunde vor dem Start des Ligafinales beim Viernheimer V-Card Triathlon war selbst die Wind-abgewandte Seite eines Baumes ein willkommener Wärmespender für Frank Hoffmann. Ein elitäres Kuscheln mit dem Holz. Christoph Lasinski genoss derweil den warmen Innenraum des am Hemsbachsee gelegenen Cafés. Top-Schwimmer Torsten Becker ließ sich nahezu blaulippich zu der Aussage hinreißen, doch wegen der Gewitterwarnung das Schwimmen gänzlich aus dem heutigen Wettkampfprogramm zu streichen. Elitäre Gewitterangst. Thomas Philipp freute sich derweil, dass ihm einer seiner Mannschaftskameraden einen Helm leihen konnte, da er seinen eigenen zuhause vergessen hatte. Spätestens an diesem Punkt sollte klar sein, dass dieses Grüppchen Dreikämpfer keine Aktien der Firma Elite erwerben wollte. Sie konnten auch nur ahnen, dass am Ende dieses Tages der 7. Rang von 12 Mannschaften in der Gesamttabelle der ersten hessischen Liga die richtige Einordnung der Mannschaftsleistung verfestigen würde. Als während des Schwimmens der unvermeidliche Regen einsetzte, wurde die anschließende Raddisziplin zur Zitterpartie. Viele Athleten stürzten, rutschten mit einem Schleifgeräusch von Metall auf Asphalt über die Straße. Dieses Geräusch ist für Radfahrer in etwa so unangenehm wie die Vibrationen des auf den Nerv treffenden Zahnarztbohrers. Wie das bloße Hören des Bohrgeräusches für eine Weile zu vermehrtem Zähneputzen führt, ermahnten die miterlebten Stürze die TG-Athleten zu vorsichtigem Fahren. Stand die Elite mit dieser radfahrerischen Kariesvorsorge an diesem Tage wirklich allein? Nein, denn gedanklich verbunden kämpfte zur gleichen Zeit in Bad Arolsen die Seniorenligamannschaft im Finalwettkampf mit Temperatur und Wetter. Auch hier mussten Steigungen gegen die Strömung des ablaufenden Wassers erstrampelt werden.
In einer ganz anderen Ecke Deutschlands erlebten Simone Jochem und Thomas Dörr den gleichen Regen. Sie hatten sich als Team zum Nürburgring begeben und erfreuten sich der letzten Stunden des 24-Stunden-Radrennnens. Auf der 25 km langen Nordschleife erfuhren sie im Wechsel 23 Runden und dass Tretkurbeln keinen Schlaf benötigten.

Die gesamte Triathletenschar konnte an diesem Tag unabhänigig vom Ort unverletzt vom Rad steigen, schmutzig, müde, erleichtert, aber bestimmt nicht elitär.

Elite muss leiden